DREAMS REWIRED – Zur Musik Siegfried Friedrich
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Die Musik zu DREAMS REWIRED stellte in vielfacher Hinsicht eine besondere Aufgabenstellung dar, die einen innovativen Zugang bereits in der Konzeption des musikalischen Materials und der formalen Struktur erforderte. Die Komplexität der vielfältig verschachtelten filmischen Ebene ließ per se verschiedenste Lesarten und Interpretationen, auch bei der Erstellung der Musik, zu; indes ergab sich eine äußerst fruchtbare und inspirierende Zusammenarbeit mit der Regie. Viele der im folgenden skizzierten Wege und Ansätze entsprangen diesem Dialog – dieser gemeinsamen Suche.
In DREAMS REWIRED sind Ausschnitte aus mehr als 200 Filmen zusammengefügt und sollen zu einem in dramaturgischer Hinsicht homogenen Werk verschmelzen.
Einerseits schien es notwendig, auf der musikalischen Ebene die Plausibilität des Aufeinandertreffens vielfältiger Bildausschnitte zu gewährleisten und als logische Notwendigkeit erscheinen zu lassen, sodass sich auf bildlicher Ebene ein organischer Ablauf ergeben konnte. Andererseits fand ich es ebenso wichtig, die Eigenständigkeit – den Wert – dieser zahlreichen filmischen Trouvaillen nicht nur zu bewahren, sondern im dichten filmischen Schnitt zum Strahlen zu bringen.
Die vielfältig verschachtelten und beständig changierenden Reflexionsebenen, mit denen der Film operiert, brachten eine zusätzliche Fragestellung mit sich: Mit welchen Augen soll der Betrachter dieses Filmes die gezeigten Filmausschnitte sehen?
Mit den Augen des heutigen, Menschen, der die Unzulänglichkeiten des Filmmaterials, seine Patina bzw. die „Veraltet-heit“ in technischer Hinsicht sieht? Oder aber mit den Augen der damaligen Zuschauer, die wohl vom Reiz des Neuen überwältigt waren. Soll die Brisanz der Utopie erfahrbar gemacht werden oder die Vergänglichkeit der Neuheit? Oder liegt einer jener (für den Film zentralen) Fälle vor in denen eine Utopie zwar ihre äußere Form adaptiert hat, aber als Utopie nach wie vor – d. h. in der Jetzt-Zeit – aktuell ist. Tatsächlich ist es das gegenwärtige Internetzeitalter, in dem viele der im Film präsentierten Träume und Visionen in der ihnen zugedachten Wichtigkeit real geworden sind; das Zeitalter der Vernetzung.
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In musikalischer Hinsicht schien es wichtig, dem Film einen „roten Faden“ zu geben, ohne jedoch die individuellen Ausprägungen des Disparaten zu nivellieren. Daher entschied ich mich zur Verwendung eines chamäleonartigen Hauptthemas, das sich permanent neu adaptiert und gleichbleibt, in dem es seine Gestalt verändert; in vielen Fällen ist es gar etwas versteckt und nur bedingt bewusst wahrnehmbar. In seiner Konstruktion setzt sich dieses Hauptthema aus zwei verschiedenen Motiven zusammen, wobei das erste (vereinfacht ausgedrückt) für die Sehnsucht nach Utopien steht, das zweite wiederum die konstruktive Umsetzung dieser Utopien. Die Zweischneidigkeit von Utopien auf nimmt im Film eine zentrale Rolle ein: Die Möglichkeit eines Gebrauchs impliziert auch einen Missbrauch. Dieser Aspekt ist im musikalischen Hauptthema dadurch eingefangen, dass es tonal zwischen der größtmöglichen harmonischen Distanz (im Intervall des Tritonus) changiert.
Daneben kommen im Film einige musikalische Chiffren vor, die unterschiedliche Bedeutungsräume besitzen.
So steht der Klang des Theremins – ein Instrument, dass ohne körperliche Berührung gespielt wird – für die körperlose Übertragung von Information; einer zentralen im Film thematisierten Utopie. Einerseits tritt es insbesondere dort in Erscheinung, wo es das in musikalische Texturen hineingewobene und somit per se nur schwer heraushörbare Hauptthema wiedergibt. Darüberhinaus tritt das Theremin (vom Hauptthema motivisch unabhängig prominent im Stück „Wireless Dreams“, das im Film zweimal auftaucht, in Erscheinung. Hier ist es gekoppelt an die (insbesondere in der Welt der Werbung propagierte) Verheißung, derzufolge der Besitzt technisch neumodischer Gadgets auch die persönliche – nicht zuletzt sexuell konnotierte – Attraktivität steigert.
Eine weitere Chiffre melodischer Art bezieht sich auf den Aspekt der Interkulturalität und besteht aus einer Melodie, die sich über die menschliche Stimme durch verschiedene Soloinstrumente wandert. Durch die unterschiedliche harmonische Kontextualisierung erlangt die an sich gleiche melodische Linie einen konträren Ausdruck. In der bedrückend-depressiven Ausprägung wird es zu den Bildern des „Human Zoo“ verwendet; in der surreal-visionären zu Bildern und Filmausschnitten aus dem Kahn-Archiv: Interkulturalität kann als System einseitiger Ausbeutung missbraucht werden; oder aber im Sinne gegenseitiger Bereicherung.
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Der im Film thematisierte Zeitrahmen erstreckt sich über einige Jahrzehnte. Nebst der technischen Revolution korreliert er auf dem Gebiet der Kunst mit einer Aufbruchsstimmung, die sich in zahlreichen musikalischen Neuerungen niederschlug und sowohl das Denken jener Zeit beeinflusste als auch von diesem Denken beeinflusst war, wobei verschiedenste Gedankengänge zu disparaten künstlerischen Ansätzen und Ergebnissen führten. Als wichtige musikalische Tendenzen jenes Zeitraums zu nennen sind etwa: Spät- u. Nachromantik; der musikalische Impressionismus; Auflösung der Tonalität – Expressionismus, Atonalität bzw. Konzepte wie Polytonalität; Jazz; verschiedene Spielarten des Neobarock bzw. der Neoklassik; musikethnologische Strömungen (mitbedingt durch die damals relativ neue Musikethnologie).
Es schien mir wichtig, diese umfassende Palette an stilistischen Möglichkeiten nicht nur zu reflektieren, sondern sie auch in eine Beziehung zu im Film thematisierten Gedanken zu bringen: Das Vokabular der Musik erlaubt sowohl affirmativen Konsens als auch ästhetischen Widerstand. In manchen Fällen verliert das Neue in der Musik seinen „bedrohlichen“ Charakter innerhalb weniger Jahrzehnte. Künstlerische Ansätze, die sich dezidiert gegen einen herrschenden Zeitgeist wandten, wurden von diesem oftmals innert kurzer Zeit selber übernommen und adaptiert.
Als – aus heutiger Perspektive vom Zuschauer nur schwer erkennbare – Chiffre für diesen Gedanken benutzte ich etwa als musikalisches Element innerhalb der Musik zu den Olympischen Spielen von 1938 ein Quartmotiv, das von vier Posaunen vorgetragen wird. Dieses Motiv verweist auf Komponisten wie Arnold Schönberg oder Paul Hindemith und bezeichnet gewissermaßen den „Aufschrei“ bzw. die Gegenstimme jener (oftmals verfolgter und als „entartet“ gebrandmarkter) Künstler, die nicht gewillt waren, als Mitläufer einem verbrecherischen Regime zu folgen.
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Viele der im Film benutzten Ausschnitte besitzen mehr oder weniger deutliche Spuren der Korrosion und sind beschädigt. Andere Ausschnitte verweisen auf einen technischen Entwicklungsstand, der aus heutiger Perspektive ebenfalls äußerst unzureichend scheint.
Es schien unumgänglich, auch diesen Materialaspekt in der Musik auf verschiedene Arten zu reflektieren. Einerseits sind verschiedene Formen der Granularsynthese benutzt, mittels derer instrumentale bzw. orchestrale Texturen in winzige Fragmente zerlegt und dann wieder zusammengefügt wurden, wodurch in klanglicher Hinsicht eine Unschärfe, eine Grobkörnigkeit erzielt werden konnte. (Derart bearbeitet wird etwa die Musik, die zur Expo 1900 verwendet ist, an verschiedenen Stellen als atmosphärische Chiffre für „es liegt etwas in der Luft“ benutzt.)
Andererseits verwendete ich stellenweise auch digitale Verfahren, um den Klang früherer Aufnahmen zu imitieren; benutzte moderne Audiotechnik somit dazu, um die Beschränktheit der alten nachzubilden.
Am sinnfälligsten thematisiert ist dieser Aspekt in der Arie „Mi espanderò“: Die Arie setzt ein im klanglichen Korsett einer alten Schellack-Platte – in mono – und verwandelt sich sukzessive in eine zunehmend brillant klingende, den Zuseher umhüllende, Surround-Kulisse: Das im Arientext thematisierte „sich Ausdehnen“ erfolgt hier auch faktisch.
Ein letzter Aspekt soll nicht unerwähnt bleiben: In der Entstehung dieses Filmes bildete die wieder-entdeckte Tonspur des Komponisten Edmund Meisel zum Film „Panzerkreuzer Potemkin“ einen zentralen Ausgangspunkt.
Obwohl ich Meisels Musik selbst in der Musik zu „Dreams Rewired“ nicht reflektiere, scheinen mir seine Ansichten und ästhetischen Forderungen nach einer Filmmusik, die – quasi in einem „Gesamtkunstwerk“ – ein zentrales dramaturgisches, durchaus auch kontrapunktisches, Gestaltungs-element ist, weil es eben auch für das Verständnis des Filmes relevante Aussagen trifft. Es ist zu bedenken, dass es nicht zuletzt oftmals aus der Welt der Oper entstammende, handwerklich hervorragende Komponisten waren, die in der Frühzeit des Tonfilmes die Filmmusik erst zu einer Kunstform erhoben, indem sie dramaturgische und kompositorische Gestaltungsmittel an diese neue Medienform adaptierten und somit den Weg für eine neue, zeitgemäße multimediale Kunstform bahnten.
Insofern ist es bedauerlich, dass in den vergangenen Jahrzehnten ein Trend zu beobachten ist, der Filmmusik primär zur bloßen Verdopplung der Bildebene sieht. Eine solche Musik verliert zwangsläufig ihre eigenständige Bedeutung und verkommt zu einem affirmativen Berieselungsmedium, das kaum den Anspruch darauf erhebt, bewußt wahrgenommen zu werden. Egal, ob ein derartiges Musik-Surrogat diskret leise in Befindlichkeits-Klischees dröhnt, oder aber in ohrenbetäubendem Bombast schweigt.
22 Juli 2015